Einmal Roccia-Melone und zurück: GTA Etappen 22-25, Lanzo-Täler (August 2003)


    Erster Teil

      Teil 2

    Dritter Teil

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  1. Tag, Nachmittag: In Usseglio Reste bürgerlicher Hotelpracht. Ein Bier als Mittagsmahl, hab immer noch wenig Hunger. Telefonisch ein Zimmer im Vulpot in Maciaussia reserviert, am Ortsende Daumen raus und mit zwei Mitnehmern zum Lago di Malciaussia. Im zweiten Auto übt ein Turiner, jetzt arbeitslos, früher Fremdsprachenkorrespondent in Deutschland und England, an mir sein perfektes Schriftdeutsch. Ich komme nicht dazu, aus dem Gespräch und der Enge des Kleinwages heraus die anscheinend grandiose Landschaft längst des Weges zu betrachten, wünsche von ganzem Herzen Glück bei den nächsten Jobvorstellungsterminen, und stehe an der Theke im Vulpot. Hier drängen sich kaffeesüchtig und eisdarbend Autotouristen, kein Platz für Wanderer. Jetzt bin ich alleine, die Ulmer werde ich nicht wiedersehen. Mir ist, als komme ich jetzt erst auf eigene Füße – gut für's Wandern. Jedenfalls ist meine Erinnerung an die folgenden Etappen lebhafter. Einzelzimmer, Dusche nebenan, Abendessen mit Bedienung zum normalem Rifugiopreis. Ein unglaublicher Gewittersturm bricht los, ein Wind, wie man es im tiefen Tal nie für möglich gehalten hätte. Vor dem Fenster treiben die Regentropfen horizontal, die Geräuschkulisse ist schauerlich. Ein Glück, im warmen Pfuhl der Zivilisation zu sein! Sie rufen abends für mich in Ca d'Asti an. Die Wirtin von dort, auf dem Grat dem Wind noch ganz anders ausgesetzt, kann am Telefon gleich etwas Angstbewältigung betreiben.


    Lago Malciaussia (1805)



      Die Fotos hab ich nach dem Gewitter im Abendlicht aufgenommen, es war in Wirklichkeit eher bunter, die Lichtstrahleffekte noch stärker! Auf dem linken Bild der weiße Hof erinnert mich an ein Bild von Böcklin mit den dunklen Zypressen. Auf dem rechten Bild, im Hintergrund die große, nur schwach sichtbare Pyramide, ist der Roccia Melone, - aber das war mir zu dem Zeitpunkt noch nicht klar. Wer es weiß, erkennt rechts von der kleinen Horizontpyramide den Abstiegspunkt nach Tazetti und davor den zum Tazetti führenden Grat,- alles hier noch Zukunftsmusik. Erst geht es morgen vom weißen Haus aus links hoch durch die schöne Stein-Gras-Landschaft zum Colle di Croce di Ferro. Vor dem folgenden Passo di Capra bis Ca d'Asti warnt Bätzing besonders bei Nässe, mal sehen.

  2. Tag: Vom Lago Malciaussia (1805) zum Rifugio Ca d'Asti (Il Rifugio piu antico d'Italia-Anno 1358- 2854m, Tel 012233192) GTA Etappe 25, Aufstieg 1150, Abstieg 400, ca 5.00 Stunden.

      Leichter Aufstieg zum Colle, kurz davor wird mein Frühaufbrechen durch Gemsen belohnt. Die im Bätzing erwähnten ehemaligen Kasernen werden gerade renoviert, vielleicht ist nächstes Jahr hier ein komfortables Bivacco! Tief unten das Susatal, und nach einer Umrundung der Blick auf den Roche Melon, darunter (unter dem schwarzen Fleck) hässlich unproportioniert, das Rifugio. Irreal nahe scheint es. Aber der Weg am Hang kurvt in viele Bachkerbungen, einmal muss man sogar Hand anlegen. Erst gegen Mittag am Rifugio. Eine Dosensuppe wird als Minestrone gereicht, kann man Tage von aufstoßen. Schön das Dach der restaurierten Kapelle (Lions Club von Susa), sonst aber viele Ruinen um das Rifugio. Es riecht nach Heizöl im ganzen Haus, das zur Pilgerszeit mehrere hundert Leute beherbergt. Die Entscheidung zum Mittagsschlaf war richtig, es gibt einen zweiten Sturm. Danach „kurzer“ Spaziergang Richtung Gipfel,- am nächsten Morgen merke ich, dass es bereits mehr als die Hälfte des Weges gewesen war! Zu dumm, dass ich ohne Kamera aufgebrochen war,- die Abendsonne setzte fotogene Lichtflecke in das tiefe Tal. Unten die Waldhügel: Alle braun verdorrt!


    Passo di Capra, Rif. Ca d'Asti (2854), Roccia Melone (3538)


    Ich bin der einzige Gast. Die Wirtin gibt mir den enormen Schlüssel zur Kapelle. Der Mann, mit dem sie sich unterhalten hatte, war der Schäfer von weiter unten, nun sagt sie: „Renato, wir sind ganz alleine hier“. Ich interpretiere das als Signal, früh ins Bett zu gehen. Denn, beim Pfefferminztee aus Plastikbecher nach dem Abendessen (Wegen der größen Höhe brauchen die Spaghetti Stunden, sagt sie) klagt sie über ihren kurzen Schlaf: Morgens vor 5 kommen schon die Leute vom Parkplatz unten hoch - nur um den lächerlichen Weg zum Melone zu gehen, als ob es eine Eistour sei, und abends habe sie bis 22.00 Uhr auf, sei ihr so vorgeschrieben. Überhaupt, diese Italiener: Sie arbeite am besten mit den GTA-Leuten und Ausländern zusammen. Auch zur Pilgerfahrt auf den Melone kommen fast nur noch Franzosen. Manche bestiegen den Gipfel auch von Nordwesten, vom Gletscher aus. Sie rät, nicht den ganzen Passo di Capra usw. auf gleichem Weg nach Maciaussia zu gehen, sondern vom Roccia Melone auf den Gletscher und von da nach Tazetti abzusteigen. Auf keiner meiner Karten ist dieser Weg so recht eingezeichnet, und Gletscher alleine gehen?? Ja klar, das sei ganz einfach, ich sei dem sicher gewachsen, ohne Crimpons und Seil möglich, die Leute kämen da sogar mit Bambini hoch. Allerdings nur bei schönem Wetter, con nebbia: NO!
    Die ganze Nacht wühlen Angst und Dosenminestrone in meinem Gedärm.

  3. Tag: Von Ca d'Asti (2858) über Roccia Melone (3538) und Rif. Tazetti (2642) nach Malciaussia(1805), Aufstieg 680, Abstieg 1733, 7.00 – 8.00 Stunden (Vom Col de Reste bis Tazetti schwieriger Weg)

      Lange vor dem Aufstehen unterhalten sich unten schon Leute. 5 Uhr 30, Schicksalsmorgen: Fa buon tempo, Renato! Come fate? Die Entscheidung wird mir nicht abgenommen, so setze ich selbst das: „Ich gehe nach Tazetti!“ in die Welt. Sie stellt mir Signore P. vor (scheint schon seit Stunden aus dem Tal gekommen zu sein), er werde mich führen! Und dann gibt sie mir noch ihre Visitenkarte, damit ich von Tazetti aus anrufen könne, dass alles gut gegangen sei. Dankend verabschiede ich mich, noch nicht wissend, wie grandios der Tag werden würde.
      Flottes Hochkurven im Schutt, man erreicht ein Kreuz, an dem der felsige Teil beginnt, der Weg führt nun komfortabel in einem Band (Foto rechts) , da passen zuweilen zwei Pilger nebeneinander. Drahtseilgeländer im letzten steilen Stück. Das Foto lässt es kaum ahnen, auf dem Gipfel ist ein relativ großes Gebäude (Bivacco und Kapelle), darüber Plattform mit Gipfelmadonna, Platz für gut 400 Personen da oben! Leute haben oben übernachtet, alles friert. Das Susatal 3000 Meter tiefer! Da sind die Straßenlampen noch an. Jemand erklärt mir den Abstieg nach Tazetti, und die Gipfel der gesamten Westalpen, von Monte Viso über die Vanoise, Mont Blanc bis zum Monte Rosa. Den nördlichen und nordwestlichen Teil des Panoramas hab ich hier zusammengeklebt:




      Dann trifft Signore P. mit den drei Senioren im Gefolge ein. Der Weg runter zum Gletscher sieht einfach aus, ich solle an der diesseitigen Spitze des Gletschersees (Foto) vom Grat zum Eis absteigen, und auf dem flachen Eis zur Crete gegenüber queren. Soweit alles leicht zu verstehen, ich frage tausendmal nach, ob ich es auch alles richtig aufgefasst habe. Was ich nie ganz verstehe, ist, wie es am Grat gegenüber weitergeht, nur verstehe ich, dass der Weg dann in der „Parete“, in der Wand rechts also, runter gehe. Beim zehnten Mal verstehe ich es noch nicht genau, also gehe ich los.

    Schuttpfad zum Grat links vorne, auf diesem guter Pfad, dann wie immer im Taugelände unangenehm aufgequollener Schutt runter zum Eis. Ich hab Schiss. Aber es geht sehr schön über den aperen Gletscher, keinerlei Spalten, ganz flach, und die Grödeln sind reiner Luxus. Jubelgefühl kommt auf, und tatsächlich kommen auch Jubellaute von einer Gruppe, die gerade den Gletscher von Bessans kommend hochzieht. Es ist ein göttlicher Tag! Nur, wo geht es jetzt am anderen Ende weiter? Spuren gibt es im Schutt vielerlei. Ich steige auf den Grat, an seinem talseitigen Ende ein Kreuz, da muss der Weg sein. Ist aber nicht so! Ich klettere am Gratende runter zum Gletscher, richtig, hier ist eine Markierung! Ich hätte einfach am Rand des Eises bis zum Rand gehen müssen! Also am jenseitigen Ende der Eiszunge, die auf dem rechten Foto ins Tal hängt. Der Pfad in der „Wand“ beginnt sofort da, bevor das Eis sich talwärts neigt.


    Blick zurück, Roccia Melone (3538) von Norden aus. Man sieht, dass der Abstieg zum Gletscher auf dem Westgrat nicht steil ist, man verlässt den Abstiegsgrat in der Schuttkerbe rechts des hinteren Gletschers.


    Links Roccia Melone von Nordosten aus, rechts der kleinen Mittelpyramide (3307) die oben erwähnte Eiszunge (Colle Resta 3258), an deren rechten Rand der Abstieg in der Wand beginnt. Das Foto lässt dort kaum einen Weg ahnen, man ahnt ihn auch kaum, wenn man drauf steht!... Aber es geht tatsächlich fast ganz ohne Hände.

    Es ging gut durch die Wand, aber es gehört sicher zu den schwierigsten Wegen, die ich gegangen bin, ist halt recht steil, und der Schutt nachher sehr rutschig. Die Markierung ist frisch, man darf in so einem Gelände sich auf überhaupt keinen Fall verlaufen. Kaum hat man den Weg hinter sich, kann man ihn in der Wand schon nicht mehr identifizieren. (Foto oben rechts). Dann weiter auf schönem Grat (Foto rechts) Richtung Tal, das Rifugio schon im Blick! Der Abstieg vom Grat ist nochmal steil. Gegen Mittag in Tazetti, stolze lange Pause mit Mittagessen, Schlaf hinter einem Felsblock. In der Hütte hängen Ausdrucke einer Webseite, auf der das Dahinschmelzen della nostra patrimonio ghiacciale beklagt wird. Leider hab ich nicht versucht herauszufinden, was es mit dem Fons del Rumur auf sich hat. Gegen 16.00 Uhr Start zum Abstieg. Am See unten kennt die Freude keine Grenzen. Ein gigantischer Tag! Wenigstens mit den Beinen ins Wasser und entspannen.
    Beim Abendessen im Vulpot ein Französisches Paar. Sie sind von Averole über den Col d'Arnas zum Gastaldi, dann Cibrario (dort gutes Essen), morgen Ca d'Asti und dann über den Melon zum Gletscher, über den wieder runter nach Bessans. Angst macht ihnen nur der 11 km lange Weg im auslaufenden Tal. Beim Abstieg vom Col d'Arnas hatten sie den Weg verloren- in Gastaldi habe man zugegeben, dass er „en montant“ markiert sei.


    Nach der Wand geht der Weg weiter über den Grat in Bildmitte. Rechts unter dem Gratende ist Rif. Tazetti (2642) zu erkennen, im Hintergrund der Lagi di Malciaussia.

  4. Von Malciaussia (1805) zum Refuge d'Averole (2229), Alpes sans Frontieres (AsF) Nr. 13.1 Etappe 2, Aufstieg 1372, Abstieg 953, 6.00 Stunden (Der Abstieg im Vallee de Lombarde ist 8 km lang (Schwierigkeit EE , also für erfahrene Bergwanderer)
    Es ist ja ganz nett im Vulpot, aber der Wanderer ist hier Aussenseiter. Vielleicht werde ich mich in Frankreich wohler fühlen. Vom See aus auf gutem Pfad die sehr steilen Wiesen hoch, vor dem Colle de Spiol ein hübscher Sattel. Kurz nach dem Pass zweigt links ein Pfad (Wegweiser) nach Tazetti ab,- ein Nachteil der AsF-Karte, dass all diese Pfade dort nicht eingezeichnet sind. Das hätte ja schöne Varianten ermöglicht.

    Bin mittlerweile gut eingelaufen, aber halte dennoch kaum die im AsF angegebenen Gehzeiten ein! Der Col Autaret ist düster und schuttöde (Foto unten). Vorher ein tiefer Schuttkrater mit See, Kasematten aus irgend einem Krieg, Metallteile, und ein älterer Franzose mit Dackel, der sich angesichts des Himmels doch nicht entscheidet, ein Stück nach Italien reinzugehen.




    Col d'Autaret (3072), Blick nach Osten. See in der Vertiefung nicht sichtbar.

    Es ist noch früh, bis zur Mittagspause kann ich weit ins sonnige Grün absteigen. Links (Foto oben) Blick auf den Glacier derriere le Clavier. Der Grenzübergang scheint sich, was das Wetter anbetrifft, gelohnt zu haben.

    Das Tal zieht sich. Weshalb auf der Karte manche Strecken gepunktelt gezeichnet sind, wurde mir nicht einsichtig. Ein gewaltiges Tosbecken des Baches ließ sich leider nicht gut fotographieren.
    Rif. Averole: Junge Hüttenwirtin mit ihrem etwas verzogenen Kind beschäftigt. Ein älterer Mann studiert mit mir zusammen Karten, macht mich darauf aufmerksam, dass meine AsF-Karte im italienischen Teil ganz anders aussieht als im französischen. Er streune tagsüber frei nach Laune weglos durch das Gelände („je vagabunde“), was mir auch zusagen würde. Tischgesellschaft: Der sehr tüchtige, stämmige Bergsteiger, mit dem ich das Zimmer teile. Er macht jeden Tag einen (oder mehr) richtigen Gipfel, mit Eis und Fels, er traue sich das alleine zu, er wisse genau, was er könne und was er lassen müsse. Dann zwei Männer, einer mit Frau: Sie sollen die Wasserversorgung der Hütte verbessern. Der Glatzkopf ist der grosse Ingenieur, er dominiert das Gespräch und die Wasserversorgung bei Tisch: Pausenlos redend spukt er in alle Richtunge, wie ich gegen das Fenster sehe. Dummerweise sitze ich eng neben ihm. Ich schütze meinen Teller mit Armen und Ellenbogen, schiebe mein Essen so weit weg von ihm wie es geht, der Spass ist mir genommen. Interessant zu hören, weshalb die Wasserversorgung erneuert werden müsse: Das Wasser aus dem schönen Holzbrunnen vor der Hütte sei NICHT trinkbar (Ich hatte selbstverständlich meine Flasche da schon gefüllt), im Juni kämen 3000 Schafe in das Tal, die verseuchten sämtliches Wasser mit Kolibakterien. Pausenlos diskutierten sie, was zu tun sei, was andere falsch gemacht hätten, reichten Kataloge mit technischen Agregaten hin und her. Morgen solle der Helikopter Teile bringen. Als abends der junge adrette Hüttenwirt von seinem Kletterkurs zurückkommt, er soll ein guter Alpinist sein, begrüßt mein Glatzmacho ihn mit Ave Cäsar.

  5. Tag: Ruhetag, Einkaufen und Telefonieren in Bessans (Bus ab Weiler Averole, 1 Std unterhalb des Refuge)
    Wäsche waschen, dann gegen 10.00 Uhr zum Weiler Averole. Die Navette kommt gegen 11.00 Uhr. In Bessans Postkarten. Geldautomat im Supermarkt, Essen und telephonieren. Die Kirche ist leider zu. Mit der Navette, nette Unterhaltung mit dem Fahrer, zurück zum Refuge. Bei der Ankunft an der Hütte kommen mir die Wasserbauer entgegen, sie ziehen ab: Der Helikopter ist nicht gekommen, Unternehmen vorerst geplatzt.
    Vom Hüttenwirt lasse ich mir versichern, dass ich den Gletscher zum Col d'Arnas mit meinen Grödeln gehen könne.


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